Wir begrüßen sehr, dass sich das marburger Studierendenparlament auf unsere Initiative hin soeben für eine Aufarbeitung von Berufsverboten und Radikalenerlass an der Uni ausgesprochen hat. Der eingebrachte und ohne Änderungsanträge vom Studierendenparlament mehrheitlich angenommene Antrag im Wortlaut:
Die Amtsträger der Student*innenschaft und darüber hinaus insbesondere die studentischen Mitglieder des Senats der Philipps-Universität Marburg werden dazu aufgefordert einen historischen Aufarbeitungsprozess zur Umsetzung und praktischen Handhabe des „Erlasses zur Beschäftigung von Radikalen im öffentlichen Dienst“ [Radikalenerlass] vom 28. Januar 1972 an der Universität in Gang zu setzen und kritisch zu begleiten.
Fragen, die dabei in den Blick gefasst werden sollten sind unter Anderem: Inwieweit und wenn ja in welchem Maße sind Student*innen bereits in ihrem Studium Opfer von Berufsverboten geworden? Wurden Student*innen etwa die Beschäftigung als Hilfskräfte aufgrund dieses Erlasses verweigert? Wurde Wissenschaftler*innen die Beschäftigung im Lehr- und Forschungsbetrieb aufgrund dieses Erlasses verweigert? Hat der Erlass Einfluss auf professorale Berufungsverfahren an den Fachbereichen gehabt?
Darüber hinaus solidarisiert sich die Verfasste Student*innenschaft mit dem, von Berufsverbot an der LMU München bedrohten, Wissenschaftler Kerem Schamberger.
Der Antrag wurde mit der folgenden Begründung in das Studierendenparlament eingebracht:
Im Januar jährt sich der sogenannte „Radikalenerlass“ zum fünfundvierzigsten mal. Die zahlreichen Berufsverbote im Öffentlichen Dienst, welche infolgedessen verhängt wurden sind eines der dunkelsten Kapitel in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte.
Marburg mit seiner starken gesellschaftlichen und studentischen Linken war davon in besonderem Maße betroffen. Bekannt ist hier vor Ort besonders der Fall des Postbeamten und DKP-Abgeordneten im Stadtparlament Herbert Bastian. Dieser wurde seinerzeit von dem ehemaligen AStA-Vorsitzenden Dietz von Meyerinck juristisch vertreten.
Ebenso evident ist der Fall Sylvia Gingold, der, aus einer im Faschismus verfolgten jüdischen Familie stammend, aufgrund ihres linken Engagements die Aufnahme in den Schuldienst verweigert wurde.
Große Teile der Stadtgesellschaft, unter ihnen auch der damalige SPD-Oberbürgermeister Hanno Drechsler und der CDU-Landtagsabgeordnete Walter Troeltsch, lehnten diese obrigkeitsstaatliche Gesinnungsschnüffelei, welche den Lebensweg Tausender Menschen systematisch zerstörte, von Beginn an ab.
1995 stellte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Fall der niedersächsischen Lehrerin Dorothea Vogt fest, dass diese Praxis des Staates der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht und damit menschenrechtswidrig war und ist.
Der aktuelle Fall des, von der Bundesesjustizministerin a.D. Herta Däubler-Gmelin (SPD) verteidigten, Münchener Jungwissenschaftlers Kerem Schamberger scheint uns trotz alledem in diese Zeiten zurückzuversetzen.
All dies ist bekannt und verleiht dem Thema eine ungeahnte Aktualität. Weniger bekannt ist gerade in Marburg, inwieweit auch an der Universität von Berufsverboten Gebrauch gemacht wurde. Gerade der FB 03, welchen die hessische CDU noch in den 1970‘er Jahren wegen Linksradikalismus schließen wollte, könnte im Kontext dessen von derartigen massiven Eingriffen in Menschenrechte und Wissenschaftsfreiheit betroffen gewesen sein. Allerdings ist dies bis heute nicht aufgearbeitet worden. Bekannt ist, dass insbesondere politisch engagierte Lehramtsstudent*innen aufgrund dieses Erlasses die Aufnahme in den Schuldienst verweigert wurde. Unklar ist jedoch bis heute, welchen Einfluss der „Radikalenerlass“ auf das universitäre Leben und Arbeiten gehabt hat.
Insofern stellt es eine historische Verantwortung für alle Gremien der Universität dar etwaigen Menschenrechtsverletzungen durch sie nachzugehen und hier Klarheit zu schaffen.