Erklärung zum Oktoberfest-Sticker

Erklärung zum Oktoberfest-Sticker

Kiro schrieb vor einiger Zeit auf unserer Pinnwand bei Facebook:

„Lieber SDS! In den letzten Monaten habt ihr die Philfak mit hübschen blauen Aufklebern 'verschönert', darauf die Forderung "Wer von der Kölner Silvesternacht redet, darf vom Oktoberfest nicht schweigen." Der Spucki impliziert, es würde auf dem Oktoberfest ohne sexuelle Übergriffe durch Asylbewerber*innen genauso - oder zumindest ähnlich - zugehen. Das Oktoberfest ging ja unlängst vorüber, und wie diverse Medien, darunter die FAZ (1) berichten, waren AUCH auf dem Oktoberfest die Mehrzahl der Beschuldigten (16) ausländische Staatsbürger*innen, darunter 6 Asylbewerber*innen. Ich finde es löblich, auf das Gesamtproblem sexualisierter Gewalt hinweisen, aber vor dem Hintergrund von nur zwei deutschen Beschuldigten finde ich bedarf es hier einer Überdenkens der Gegenüberstellung von der Silvesternacht und dem Oktoberfest. Ich wüsste gerne, wie diese Forderung angesichts der vorliegenden Statistik zu verstehen ist: Worüber genau sollte "nicht geschwiegen werden?" (1) http://blogs.faz.net/deus/2016/10/0…

Darüber haben wir uns einige Gedanken gemacht und diese versucht in den folgenden Zeilen zu vermitteln:

Da diese immer wieder gerne als Argumentationsgrundlage dient, zunächst ein paar Worte zur Statistik, vorallem im Bezug auf die Frage nach der Anzahl an sexuellen Übergriffen. Fundamental wichtig um überhaupt mit Statistik arbeiten zu können ist die Frage: was genau wird abgebildet. In der zitierten Statistik sind dies zum Beispiel keinesfalls "die sexuellen Übergriffe" und auch nicht "die sexuellen Übergriffe auf dem Oktoberfest". In der Kriminalstatistik erhoben werden meist nur die abgeschlossenen Fälle, oder, so wie im vorläufigen Sicherheitsbericht zum Oktoberfest die angezeigten Fälle eines bestimmten Tatbestandes. Was ist eigentlich in unserem Fall der fragliche Tatbestand? Der Tatbestand "Sexueller Übergriff" existiert leider nicht. Grabschen zum Beispiel ist damit nicht strafbar. Kann also auch nicht angezeigt werden. Was durchaus ein sexueller Übergriff ist, und zum Beispiel bei Bedienungen und auch im Gedränge häufig auftritt, fällt damit schon mal aus der Statistik.

Auch die rechtliche Definition von "sexueller Nötigung" ist recht löchrig: Als betroffene Person zu einer sexuellen Handlung "Nein" zu sagen reicht eben bislang nicht. Die Handlung muss außerdem unter körperlicher Gewalt oder Gewaltandrohung, die mit der Gefahr für Leib und Leben einhergeht, stattfinden. Auch psychische Gewalt reicht hier nicht, um die Handlung strafbar zu machen und eine Drohung die andere Personen, Gegenstände oder zum Beispiel Haustiere betrifft ist hiermit auch von der rechtlichen definition ausgeschlossen. (Auch wenn § 177 StGB gerade vollumfänglich novelliert wird. Dem Prinzip "Nein heißt nein" wird damit in Zukunft – je nach Definition, aber zumindest ein ganzes Stück besser als bisher - entsprochen.) Eine Vielzahl der begangenen Vergewaltigungen können damit bislang garnicht strafrechtlich verfolgt werden, weshalb Feminist*innen schon lange für eine Verbesserung der zugrundeliegenden Gesetze kämpfen.

Zurück zur Statistik: Überhaupt nur ein Bruchteil der erfahrenen sexuellen Übergriffe können Betroffene also strafrechtlich verfolgen lassen. Und von diesen tauchen nur die in der Statistik auf, die auch tatsächlich angezeigt werden. Nicht jeder der strafrechtlich verfolgbaren Fälle wird aber angezeigt und nicht jeder wird sofort angezeigt und taucht damit schon im vorläufigen Sicherheitsbericht der Polizei auf. Gerade bei erfahrener sexueller Gewalt sorgen Scham und Selbstvorwürfe oft dafür, dass Betroffene die Tat eben nicht anzeigen oder öffentlich machen. Grund für diese Mechanismen, die Betroffenen vermitteln sie selbst trügen Mitschuld an dem gegen sie gerichteten Übergriff ist unsere Gesellschaft. In dieser wird sexuelle Gewalt toleriert und die Verantwortung den Betroffenen zugeschrieben. Unsere Gesellschaft ist aber nicht nur sexistisch sondern zudem zum Beispiel auch noch rassistisch geprägt. Dies sorgt dafür, dass das klassische Täter-Bild, das mit sexualisierter Gewalt verbunden wird (unabhängig von jeglichen Tatsachen!) immer der "fremde Mann" ist. Geglaubt wird damit vor allem der Frau* die einen Übergriff seitens einer Person anzeigt, die in dieses Bild passt. All das ist nicht statistisch belegt, richtig.
All das zeigt aber auch wie wenig aussagekräftig eine solche Statistik für die vorliegende Fragestellung ist. Weitere Überlegungen hierzu sind in diesem Artikel angestellt: http://www.taz.de/!5271854/.

Ein weiterer Aspekt hierbei (Selektivität des Strafprozesses) ist neben den beschissenen Gesetzen auch die Verfolgungspraxis der Exekutive (übersetzt: die Bullen suchen aus, bei wem überhaupt sie Straftaten von Amts wegen verfolgen oder was sie für Beweise überhaupt gewillt sind, aufzunehmen) wie auch der Justiz (Verfahrens-Einstellungen!). Denn auch das (und ganz besonders bei Sexualdelikten) ist Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse. Handeln und Struktur von Polizei und Gerichten trägt noch mal in nahezu gleichem (!) Ausmaße (=Anzahl dadurch unter den Tisch gefallener begangener Straftaten) wie die rechtlich Ausgestaltung genannter Tatbestände dazu bei, dass die Statistik einer solchen Bezeichnung unwürdig ist.

Was der verklebte SDS Sticker meint ist vor allem folgendes: sexuelle Übergriffe auf Frauen* sind weder neu, noch ein Ausnahmezustand, noch auf bestimmte Täter-Gruppen beschränkt. Alltäglich, vor allem aber auf Großveranstaltungen sind sexuelle Übergriffe leider der Normalzustand. Damit zum Beispiel auch auf dem Aushängeschild der deutschen Großveranstaltungen: dem Oktoberfest. Eben dies wurde und wird aber in Diskussionen gerne ausgeblendet. Sexuelle Übergriffe sind ein großes Problem. Das aber nicht erst seit der "Kölner Silvesternacht". Jahr für Jahr kommt es zu sexuellen Übergriffen im Zusammenhang mit dem Oktoberfest und natürlich auch anderer Großveranstaltungen. Dass eben diese Übergriffe aber kaum thematisiert werden, kritisiert der Sticker.

Sexuelle Übergriffe müssen thematisiert werden und das ganz unabhängig von der vermeintlichen geografischen Herkunft oder dem Aufenthaltsstatus des oder der Täter. Auf das Gesamtproblem sexueller Gewalt hinzuweisen ist damit nicht löblich, sondern absolut notwendig. Der Fehler, der in Diskussionen zu diesem Thema häufig gemacht wird, ist den (verzerrten) Blick weg von den Betroffenen und deren Bedürfnissen einseitig auf bestimmte Merkmale der (vermeintlichen) Täter zu richten. Auch die wichtige Frage danach warum sexuelle Gewalt in unserer Gesellschaft verbreitet ist und vor allem weitestgehend toleriert wird, wird meist nicht gestellt. Stattdessen zeigen sich oftmals eindeutig rassistische Zuschreibungen. Während "nur zwei deutsche Beschuldigte" quasi als Entlastung für alle Deutschen gewertet werden, gelten zwei Beschuldigte ausländische Staatsbürger*innen oftmals als Bestätigung für rassistische Ressentiments. Wird der sexuelle Übergriff von "einem Deutschen" begangen so wird diese Tat im Diskurs niemals mit dessen "deutschsein" in Verbindung gebracht, bei zum Beispiel Asylbewerber*innen hingegen gestaltet sich das ganz anders. Gegen diese rassistischen Zuschreibungen wendet sich besagter SDS-Sticker.

Augenscheinlich gibt es einen Anstieg gewalttätigen Verhaltens durch Geflüchtete, unter dem berechtigterweise insbesondere Sexualstraftaten besondere Beachtung erfahren. Dies liegt aber nicht an einer von Rechten unterstellten völlig falschen Eugenik-Ideologie, die dies an der Genetik irgendwelcher „Untermenschen“ festmacht, sondern an der sozialen Situation der Menschen. Und zwar weil sie von der deutschen Mehrheitsgesellschaft exkludiert werden, ihnen ein gleichberechtigter Zugang zum Arbeitsmarkt und anderen Teilhabeprozessen verwehrt bleibt etc. Wir wissen alle um die mangelhaften Integrationsprozesse. Dies wiederum liegt nicht an den tausenden freiwilligen Helfer*innen, die ganze Arbeit leisten, um diese Prozesse abzufedern. Das liegt an einer neoliberalen Großen Koalition, die sich weigert, die soziale Infrastruktur herzustellen, der nötig ist, um den geflüchteten Menschen eine inklusive Bleibekultur zu ermöglichen. Um einen erfolgreichen Integrationsprozess einzuleiten, braucht es eine Regierung, die es ermöglicht, die soziale Infrastruktur dafür herzustellen, die man benötigt. Dies muss von denen finanziert werden, die es sich leisten können: Von den großen Konzernen und den Superreichen. Für eine gute Lebensqualität aller hier lebenden Menschen – gegen das Ausspielen beherrschter Gruppen im Sinne der Herrschenden.
Also, worüber genau sollte jetzt nicht geschwiegen werden? Darüber, dass Sexismus und sexuelle Gewalt gegen Frauen* an der Tagesordnung ist und zwar aufgrund des strukturellen Sexismus in unserer Gesellschaft.

#refugeeswelcome #fuckafd #fucksexism“