Uni Marburg würdigt weiterhin Altnazis

Universität Marburg würdigt weiterhin Altnazis

Der Senat möge beschließen:

  1. Mehrere, jedoch mindestens eine, wissenschaftliche Untersuchung/en in Auftrag zu geben, die die Verstrickung der Universität, ihrer Institute und Zentren sowie bekannter Persönlichkeiten (u.a. genannter Personen (s.u.)) zeitnah erforscht. Hier ist unter anderem auf sogenannte Ehrenprofessor*innen, Ehrendoktor*innen und Ehrensenator*innen sowie andere Würdenträger*innen einzugehen.

  2. Eine Kommission einzusetzen oder eine bestehende Kommission zu beauftragen, die Universitätsgebäude auf die Zurschaustellung/Würdigungen von Altnazis zu untersuchen. Die Funde sind zu dokumentieren und den beschließenden Gremien ist zu berichten. Der anzufertigende Bericht ist zu veröffentlichen. Die Kommission unterstützt dabei die Arbeit der wissenschaftlichen Untersuchung(en).

  3. Bestehende Zurschaustellungen/Würdigungen (auch auf der Website der UMR) sind zu ergänzen oder zu entfernen. Die genaue Regelung fällt im Einzelfall und hängt von dem Grad der Schuld ab.

  4. Gebäude, Preise oder Stiftungen, die den Namen von Altnazis tragen, sind umzubenennen. Über die neue Namensgebung entscheiden alle Universitätsangehörige in einem allgemeinen, unabhängigen, freien, gleichen und gerechten Verfahren (Urabstimmung) zusammen. Vorschläge können von den Gremien der Universität und der Student*innenschaft eingereicht werden.

  5. Die Universität veröffentlicht auf ihrer Website eine Liste aller Ehrensenator*innen, Ehrenprofessor*innen und Ehrendoktor*innen.

  6. Die Universität ist angehalten auf die Stadt Marburg zu zugehen, um die Namensgebung von Straßen, Plätzen und Orten kritisch aufzubereiten.

  7. Über den gesamten Prozess (Punkt 1 bis 6) ist regelmäßig im Student*innenparlament und Senat zu berichten. Die gesamte Universität ist über Meilensteine zu informieren. Eine Pressemitteilung ist zu Beginn und Ende des Prozesses anzufertigen und zu veröffentlichen.

 

 

Begründung:

Eine kritische Erinnerungskultur ist weiterhin notwendig, um den Opfern des Naziregimes gerecht zu werden und Hass und Hetze entgegenzuwirken. Antisemitismus und andere Diskriminierungsformen erstarkten in den letzten Jahren deutlich und führten bereits erneut zu rechtsextrem motivierten Anschlägen. So wird die weitere Aufarbeitung der NS-Vergangenheit teilweise in Frage gestellt. Auch die Universität Marburg steht daher in der Verantwortung sich kritisch mit ihrer Vergangenheit und der Vergangenheit ihrer (ehemaligen) Universitätsangehörigen auseinanderzusetzen.

Dies geschah bereits in Einzelfällen. Besonders hervorzuheben sind die von der Universität Marburg herausgegebenen Bände in der Reihe Academia Marburgensis. Anne Christine Nagels (2000) herausgegebenes Werk „Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus“ stellt eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Wirken der Rektoren, Fakultäten und Student*innenschaft ab 1933 dar. Auch die Sammelnbände von Gerhard Aumüller, Kornelia Grundmann, Esther Krähwinkel, Hans Lauer und Helmut Remschmidt (2001) „Die Marburger Medizinische Fakultät im ‚Dritten Reich‘“, „Marburger Theologie im Nationalsozialismus“ von Andreas Lippmann (2003) und „Germanistik und Kunstwissenschaft im ‚Dritten Reich‘“ von Kai Köhler, Burghard Dedner und Waltraud Strickhausen (2005) arbeiten die jeweilige Institutsgeschichte sehr gut heraus.

Die Verantwortung der (Marburger) Medizin im Nationalsozialismus wurde dabei bereits im Werk „Bis endlich der langersehnte Umschwung kam…“, welches 1991 von der Marburger Medizin Fachschaft herausgegeben wurde, erforscht. Vier Jahre später widmete sich die Universität am 50. Jahrestag des Kriegsendes zusätzlich der eigenen Geschichte.

Das Engagement der Universität Marburg geht aber noch weiter. So wurde 2017 beispielsweise das „Ernst-von-Hülsen-Haus“ in „Kunstgebäude“ umbenannt, weil Hülsen als Namensgeber durch sein Engagement in der NS-Zeit nicht mehr in Frage kam.

Und trotzdem ist die Aussage im Geleitwort zu Margret Lembergs (2002) erschienenen Schrift „… eines deutschen akademischen Grades unwürdig“ über die Entziehung beziehungsweise Vergebung von Titeln anhand rassistischer und politischer Motive an der Universität Marburg, dass der damalige Universitätspräsident Horst Kern verfasste, weiterhin aktuell. Kern stellte damals fest, dass die Universität bis dato nicht alle menschenrechtswidrigen Akte aufgearbeitet hatte.

Denn weiterhin werden Altnazis unkritisch gewürdigt. So hängen im Chemie Neubau auf den Lahnbergen beispielsweise Porträts und Informationstafeln über das Schaffen von Wissenschaftlern*innen, die in Marburg gewirkt haben. Diese Würdigungen blenden das Wirken im Naziregime allerdings aus. Auf der Institutswebsite verhält es sich genauso.

Unter den gewürdigten Personen ist beispielsweise Hans Meerwein (1879-1965), welcher ab 1929 bis 1952 Direktor des chemischen Instituts in Marburg war. Heute ist eine der größeren Straßen auf dem Campus-Lahnberge nach ihm benannt. Meerwein gehörte zu jenen Professoren, die 1933 das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ unterschrieb. Ab 1934 gehörte er der Schutzstaffel (SS) an. Am Alten Chemischen Institut ziert zudem eine Gedenktafel der Gesellschaft Deutscher Chemiker das Gebäude.

Karl Winnacker (1903-1989) war von 1933 bis 1945 bei der IG Farben angestellt, unter anderem als Manager bei den Hoechst Werken und kann ebenfalls im Chemieneubau gefunden werden. Die Verstrickungen der IG Farben im Naziregime sind mittlerweile weithin bekannt. Winnacker war seit 1933 Mitglied der Sturmabteilung (SA) und ab 1937 auch der NSDAP. Während seiner Zeit als Vorsitzender des Marburger Universitätsbundes (1957-1984) schenkte dieser der Uni das Musizierhaus im Alten Botanischen Garten, welches auch Karl-Winnacker-Haus heißt. Der Universitätsbund verlieh von 1990 bis 2009 auch einen Preis mit seinem Namen.

Bis 1938 war Adolf Haeuser (1857-1938) Vorsitzender des Universitätsbundes. Auch Haeuser war in die Geschäfte der IG Farben involviert, unter anderem als Aufsichtsratmitglied. Zu seinen Auszeichnungen gehören neben dem Porträt im Foyer des Chemieneubaus unter anderem die Ehrensenator- und Ehrenbürgerwürde der Uni beziehungsweise Stadt Marburg. Noch heute existieren Stiftungen, die seinen Namen tragen und teilweise von der Universität Marburg mitverwaltet werden. Das Auftreten des Marburger Universitätsbundes wurde von Jörg Pawelletz in einem Beitrag im Uni Journal vom April 2004 mit dem Titel „Der Uni-Bund im Nationalsozialismus“ hervorragend illustriert. Deutlich wird auch Haeusers Nähe zum Nationalsozialismus und die Bereitschaft der Universität und des Bundes im Sinne „der Ziele des Reichskanzler Hitler“ (Haeuser; siehe Beitrag) zu wirken. Dieser dankte beispielsweise mit einem persönlichen Geburtstagstelegramm im November 1937. Mitunter war dafür Haeusers Engagement beim Haus der Deutschen Kunst in München verantwortlich. Er gehörte zu einem der achtzehn Grundsteinspender, die maßgeblich zum Bau beitrugen.

Als weiteres Beispiel soll Adolf Butenandt (1903-1995) herangezogen werden, der ebenfalls im Chemieneubau mit einem Porträt vertreten ist und auf der Website genannt wird. Butenandt studierte zeitweise in Marburg. Nicht nur unterschrieb Butenandt das Bekenntnis der Professoren zu Adolf Hitler 1933, er konnte 1936 auch trotz Mitgliedersperre NSDAP Mitglied werden. Weitere Mitgliedschaften waren Deutsche Arbeitsfront (DAF) und NS-Lehrerbund. Butenandts Wirken im Naziregime wurde bereits in Ansätzen erforscht und zeigt viele Berührungspunkte auf.

 

Auf der Universitäts-Website zu den Ehrensenator*innen heißt es:

„Die Philipps-Universität Marburg unternimmt mit diesen Kommentierungen den Versuch, die Vergabe des Ehrensenatorentitels kritisch zu würdigen und die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Universität als einen Prozess zu begreifen, der beständig weiterzuführen ist. Der Senat der Philipps-Universität Marburg hat entschieden, keine Aberkennungen von Ehrungen vorzunehmen“.

Diesen Prozess gilt es nun erneut anzustoßen.

 

 

Literaturverzeichnis

Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat. 1933. Überreicht vom Nationalsozialistischen Lehrerbund Deutschland. https://archive.org/details/bekenntnisderpro00natiuoft/page/2/mode/2up?view=theater.

Der Konvent der Philipps-Universität Marburg. 1996. Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Veranstaltungen der Universität zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 8. Mai 1995. Marburg: Hausdruckerei der Philipps-Universität.

Fachschaft der Medizin der Philipps-Universität Marburg. 1991. „Bis endlich der langersehnte Umschwung kam…“. Marburg: Schüren.

Frankfurter Zeitung. 1937. Glückwünsche zum 80. Geburtstag für Geheimrat Dr. Haeuser. https://dfg-viewer.de/show?tx_dlf%5Bdouble%5D=0&tx_dlf%5Bid%5D=https%3A%2F%2Fpm20.zbw.eu%2Ffolder%2Fpe%2F0069xx%2F006906%2Fpublic.mets&tx_dlf%5Bpage%5D=4&cHash=fd5362270514174fc2212f6e6b24431c.

Hitzeroth, Manfred. 2017. Unmut über neuen Namen. https://www.op-marburg.de/Marburg/Huelsen-Haus-Neuer-Name-sorgt-bei-Freundeskreis-fuer-Unmut.

Klee, Ernst. 2003. Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag GmbH.

Köhler, Kai, Burgard Dedner und Waltraud Strickhausen. 2005. Germanistik und Kunstwissenschaft im „Dritten Reich“. München: K. G. Saur.

Lemberg, Margret. 2002. „… eines deutschen akademischen Grades unwürdig“: Die Entziehung des Doktortitels an der Philipps-Universität Marburg 1933-1945. Marburg: Marburger Universitätsbibliothek.

Lindner, Stephan H. 2005. Hoechst. Ein I.G.Farben-Werk im Dritten Reich. München: C.H. Beck Verlag.

Lippmann, Andreas. 2003. Marburger Theologie im Nationalsozialismus. München: K. G. Saur.

Nagel, Anne C. 2000. Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.

Pawelletz, Jörg. 2004. Der Uni-Bund im Nationalsozialismus. Eine Politik der Anpassung und Abgrenzung. https://www.uni-marburg.de/de/uniarchiv/unijournal/unibund-ns-muj-4-2004.pdf.

Proctor, Robert N. 2000. Adolf Butenandt (1903-1995). Nobelpreisträger, Nationalsozialist und MPG-Präsident. https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/Ergebnisse/Ergebnisse2.pdf.

Schlenker, Ines. 2007. Hitler's Salon. The Große Deutsche Kunstausstellung at the Haus der Deutschen Kunst in Munich 1937-1944. Bern: Peter Lang.

UMR. Der erste Vorsitzende Adolf Haeuser. https://www.uni-marburg.de/de/hosting/uni-bund/geschichte/vor/adolf-haeuser.

UMR. Ehrensenatorinnen und Ehrensenatoren der Philipps-Universität Marburg. https://www.uni-marburg.de/de/universitaet/profil/geschichte/ehrensenator-innen.

UMR. Geschichte der Marburger Chemie https://www.uni-marburg.de/de/fb15/fachbereich/profil_und_chronik/chronik-1/geschichte-der-marburger-chemie.

UMR. Stiftungen. https://www.uni-marburg.de/de/universitaet/profil/fundraising/foerdervereine/startseite-stiftungen.